Interview Hans-Ulrich Obrist / Nina Ahlers

Interview 1990, Katalog Siebtes Internationales Sommeratelier Pays da la Loire, Fondation Regionale d´Art Contemporain, Clisson, Frankreich

Hans-Ulrich Obrist: Deine Skulpturen rufen in uns Bilder vertrauter Dinge auf: die "Kuchen" wecken Erinnerungen an die Kindheit im Allgemeinen. Andere Arbeiten wie die "Früchte" sind eher Objekte, die Früchte repräsentieren an statt sie nachzuahmen, die "Lexica" verkörpern das Lesen in einer generellen Weise. Bis zu welchem Punkt sind die Begriffe "kollektive Biographie" und "kollektive Vergangenheit" wichtig im Kontext Deiner Arbeit?

Nina Ahlers: "Kollektive Vergangenheit" mag für mich vielleicht bedeuten, dass ich eine kindliche Sichtweise bewahrt habe - sehen, ohne zu wissen, was es ist. Ich habe diese Seh-Erfahrung gemacht beim Betrachten bestimmter Dinge und sie in Skulpturen verwandelt. Das heißt, meine Objekte rufen beim Betrachter immer ein "was ist das" hervor; er erinnert sich also an seine kindliche Wahrnehmungsweise. Anders gesagt, ich möchte das Gefühl der Entspannung herstellen, das man hat beim einfachen Schauen, ohne sofort verstehen zu wollen. Die "Lexica" sind Wörterbücher, das Vokabular, was unter anderem sagen will: Sie enthalten die Sprache, die abstrakteste und unsichtbarste Form menschlichen Ausdrucks.

H.-U. O.: In letzter Zeit nimmt das Ornament einen zentralen Platz ein im künstlerischen Diskurs. Man bemerkt in Deiner Arbeit die Verwendung von Ornamenten, aber ebenso ein ironisches Spiel mit ihnen. Dein Werk unterscheidet sich meiner Meinung nach auch durch die Einfügung ornamentaler Elemente in die Skulptur von Positionen, die man hauptsächlich in der Malerei findet.

N. A.: Vielleicht. Ich ironisiere nicht. Ich möchte hier hervorheben, dass die Qualität des Materials (geschliffenes Polyester), also die Farbe, die Härte und der Glanz ebenso wie die wie gebraucht wirkende Oberfläche zur Autonomie der Skulptur beitragen.

H.-U.O.: Alle Deine Arbeiten haben den Charakter von "individuellen" Dingen, die kleine Gruppen formen. Deine Ausstellung bei Rüdiger Schöttle in München zeigt sich als ein sehr offenes System (vor allem bei den Kugeln). Die Kugeln bilden ein unbewegliches Spannungsfeld, das im selben Moment eine potentielle Bewegung impliziert. Gruppen bilden sich und lösen sich auf, bis nichts meht übrig bleibt als Offenheit.

N. A.: Ich war immer der Überzeugung, dass ein Künstler eine Welt schaffen muss, ein in sich offenes System, das sich immer auffüllen oder ausbreiten lässt (jeder Künstler ist expansiv). Für mich heißt das, die kombinierten Arbeiten klingen zusammen, verbinden sich. Jedes Teil muss in sich vollkommen sein und gleichzeitig mögliche Verbindungen eingehen. Im Übrigen ist es mir immer eine Freude, meine Arbeiten mit denen anderer Künstler korrespondieren zu sehen (zum Beispiel: Die "Lexica" gehen sehr gut zusammen mit den großen Schwarz-Weiß-Portraits von Ming - allerdings lehne ich das Ausstellen in Räumen mit zugebauten Fenstern ab - die arme Architektur... )

H.-U. O.: Das Spannungsfeld zwischen der Präsenz des Objekts auf der einen Seite und der applizierten
Struktur andererseits scheint mir bemerkenswert. In welchem Punkt siehst Du einen Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen?

N. A.: Diese Präsenz konnte ich bei früheren Versuchen mit Malerei nie erreichen. Der einzig mögliche Schritt für mich war, die Illusion der Malerei haptisch werden zu lassen im Objekt. Die Farben, die Linien, die Zeichen, die an sich schon sehr klar sind: Sie noch klarer werden zu lassen durch die dritte Dimension (wenn ich zu lange an einem Objekt arbeite, wird mir fast schlecht von dieser Deutlichkeit).